Wir wissen nicht, was in der Zukunft passieren wird. Deswegen liegt sie hinter uns, während die Vergangenheit, die wir ja kennen und die für uns ersichtlich ist, vor uns liegt. Klingt das ungewohnt? Das liegt daran, dass in unserer Gesellschaft ein anderes Zeitverständnis vorherrscht: Die Zukunft liegt hierbei vor uns, die Vergangenheit haben wir hinter uns gelassen. Die meisten von uns leben deswegen auch zukunftsorientiert. Es werden Pläne geschmiedet, To-Do- und Bucket-Listen geschrieben – das alles muss noch erledigt werden! Aber das ist nicht die einzige Art zu leben. Das oben beschriebene Zeitkonzept gibt es wirklich. Es gibt auch zyklische Zeitverständnisse und noch einige mehr, die kaum bekannt sind oder an die sich niemand mehr erinnert.
Die Art und Weise, wie wir über die Welt denken, beeinflusst unser Handeln, wie wir Erlebnisse einordnen und wie wir leben. Die meisten haben es vielleicht schon einmal erlebt, wenn sie in einer anderen Familie zu Gast waren. Manchmal werden dort ganz andere Gewohnheiten gepflegt, als man es aus der eigenen Familie kennt: Bei manchen Familien wird vor dem Essen ein bestimmter Spruch aufgesagt, bei der anderen läuft der Fernseher nebenbei, in manchen Familien wird immer zusammen gegessen, in der anderen nach Lust und Laune. Das alles hat seine Vor- und Nachteile. Und vor allem hat alles seine Berechtigung. Manchmal sind hierbei Muster erkennbar. Gewohnheiten oder auch Traditionen werden durch Klassenzugehörigkeit, Bildungsgrad, kulturelle Zugehörigkeit und Familiengeschichte geprägt. Dabei gibt es aber auch individuelle Unterschiede. Das eine Kind mag die Tradition weiterführen, das andere damit brechen und das genaue Gegenteil praktizieren. Außerdem ändern sich Traditionen. Vor allem kulturelle Zugehörigkeiten sind fluide und nicht starr. Und auch hier spielt das Individuum eine wichtige Rolle: Welchen Platz es einnimmt, welche Erfahrungen es gemacht hat und ob diese zufällig oder auf Grund struktureller Unterscheidungen gemacht wurden.
Wie wir die Welt sehen, wird also durch ein Geflecht von persönlichen Vorlieben, Erfahrungen und sozialen Prägungen beeinflusst. Es ist schwer zu unterscheiden, was woher rührt. Es ist aber auch auffällig, dass einige Weltbilder dominanter sind als andere. Das liegt unter anderem daran, dass lokale Wissenskonstrukte in der Kolonialzeit gezielt von den Besatzungsmächten regelrecht ausgelöscht wurden. Die Verbrennung angeblicher „Hexen“ im Mittelalter hatte einen ähnlichen Hintergrund. Akademisch gebildete Ärzte und die christliche Kirche fühlten sich durch Frauen bedroht, die über eine ganz andere Art des Wissens verfügten und ihnen Konkurrenz machten.
Es gibt noch unzählige andere Beispiele aus der Menschheitsgeschichte, die dazu führten, dass die Vielfalt von Weltbildern immer weiter abgenommen hat. Andere Wissenskonstrukte, die nicht dem akademischen und wissenschaftlichen Standard des Globalen Nordens entsprechen, werden teilweise abgewertet und belächelt. Dabei könnten sie dabei helfen, eine andere Gesellschaft zu schaffen, die es Menschen weltweit ermöglicht, würdig zu leben und ihre Bedürfnisse unter Berücksichtigung planetarer Grenzen befriedigen zu können – heute und in Zukunft. Und wie viele Kriege, wie viele tägliche Konflikte könnten vermieden werden, wenn eine größere Toleranz für andere Sichtweisen etabliert werden würde?