Altersgruppe, Beruf, Geschlecht, Interessen, Musikgeschmack, Nationalität, politische Überzeugung, ... worüber eine Person sich selbst definiert, kann sich an verschiedensten Kriterien orientieren und ist in keinem Fall einfach zu fassen. Zusätzlich wird die Identität stark geprägt von den individuellen sozialen, kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Eindrücken im Laufe des Lebens einer Person. So können beispielsweise gesellschaftliche Trends, persönliche Erfolge oder Niederlagen, neue Bekanntschaften und ihre Überzeugungen oder politische Entwicklungen großen Einfluss darauf haben, wofür man als Person steht.
Das bedeutet zum einen, dass die eigene Identität niemals festgelegt ist, sondern in ständigem Wandel steht. Zum anderen wird deutlich, dass die Identität einer Person die Schnittmenge vieler einzelner Identitäten darstellt. Menschen lassen sich nicht also nicht so einfach in Gruppen einteilen und voneinander abgrenzen. Zu individuell sind hierfür ihre individuellen Prägungen und Erfahrungen.
Trotzdem ist eben dieses Schubladendenken, das Menschen anhand bestimmter Kriterien in festgeschriebene Gruppen einordnet, häufig tief in unserem Denken verankert. So ist es nichts Verwunderliches, der Gesamtheit der deutschen Bevölkerung zuzuschreiben, sehr viel Wert auf Pünktlichkeit zu legen, ständig Bier zu trinken und sich gegen jedes kleinstmögliche Risiko absichern zu wollen. Derartige Vorurteile finden sich nicht nur hinsichtlich der Herkunft einer Person, sondern beispielsweise auch in Bezug auf Berufsgruppen, Geschlechter oder auf das Aussehen von Personen. In unseren Köpfen entstehen Bilder, die Personen aufgrund ihrer Gruppenzugehörigkeit scheinbar natürliche Eigenschaften, Fähigkeiten, Stärken, Schwächen und Überzeugungen zuschreiben.
Durch derartiges Denken in Kategorien wird zum einen die Individualität der Personen in den Hintergrund gerückt, zum anderen wird die scheinbar so deutliche Abgrenzung von Personen außerhalb der Gruppe betont. In vielen Fällen steht diese Definition von Zugehörigkeit und Ausgrenzung nicht ohne Be- bzw. Abwertung. Stattdessen ermöglichen es eben derartige Kategorien, Hierarchie und Asymmetrien zwischen gesellschaftlichen Gruppen zu begründen und weiterzutragen. Auch heute sind wir nicht frei von solchen, häufig negativ konnotierten, Bildern von Fremden. Um gesellschaftlichen Wandel zu erzielen, ist also eine aktive Auseinandersetzung mit eben diesen Bildern, die globale Ungleichheiten rechtfertigen und festigen, notwendig.
Sich diese Ungleichheiten vor Augen zu führen bedeutet auch, sich mit der eigenen zugeschriebenen Identität und der damit verbundenen Position in der Gesellschaft auseinanderzusetzen. Besonders im Bereich Bildung spielt hierbei auch die aktive Auseinandersetzung mit der Wissensproduktion über das kulturell Fremde eine Rolle. Der Wissenschaftler Edward Said weist in seinem Buch „Orientalismus“ beispielsweise darauf hin, dass ein wichtiger Aspekt von Macht darin besteht, Wissen über die Anderen zu produzieren und zu verbreiten. Indem bestimmte Bilder und Geschichten über die Anderen permanent wiederholt werden, werden sie zu scheinbar sicheren Wissensbeständen. Als hauptberuflich Lernende sind Schülerinnen und Schüler in besonderem Maße mit diesen Wissensbeständen und der Herausforderung des reflektierten Umgangs mit ihnen konfrontiert. Eine Möglichkeit, sich aktiv mit der eigenen Sicht auf die Welt auseinanderzusetzen und sich gegenüber anderen Lebensrealitäten zu öffnen, besteht durch direkten persönlichen Austausch, wie ihn auch die Schülerinnen und Schüler im Rahmen der durch ENSA geförderten Projekte erleben.